Impfprivilegien

Eine Analyse

Niko Hildebrand
6 min readJan 24, 2021

Die deutsche Bundesregierung hat sich in der Debatte um potenzielle Privilegien für Bürger, die bereits eine Impfung gegen das Corona-Virus erhalten haben, positioniert: Es soll keine selektiven Lockerungen der Corona-Maßnahmen für Geimpfte geben.
Ist diese Haltung (auch langfristig) die richtige? Eine Analyse…

Zunächst einmal ist es ein Zeichen dafür, welch gravierende Auswirkungen die Corona-Pandemie mit sich gebracht hat, dass wir die Rückkehr zu grundlegenden Freiheitsrechten als Privileg bezeichnen.
Die Einschränkung dieser Freiheitsrechte ist momentan zur Verhütung schlimmeren Übels notwendig und gerechtfertigt, muss jedoch regelmäßig auf ihre Angemessenheit sowie die spezifische Wirksamkeit überprüft werden:

  • Ist eine Maßnahme vor dem jeweils aktuellen Infektionsgeschehen (noch) angemessen? Die Antwort auf diese Frage hängt individuell von der Schwere der Auswirkungen durch die Einschränkung einzelner Freiheitsrechte sowie den aktuellen Infektionszahlen und deren Auswirkungen ab.
  • Konnte oder kann mit der Maßnahme tatsächlich die unterstellte Wirkung erzielt werden? Die Antwort auf diese Frage ist nicht trivial, kann ohne die isolierte Anwendung einzelner Maßnahmen statistisch doch bestenfalls eine Korrelation, nicht aber eine Kausalität nachgewiesen werden. Gibt es jedoch starke Anzeichen, dass eine Maßnahme keine signifikante Wirkung erzielt, ist sie strengstens zu hinterfragen.

Ohne ein Urteil darüber zu fällen, ob einzelne der getroffenen Maßnahmen sinnvoll (weil angemessen und wirksam) sind oder nicht, möchte ich für den folgenden Teil des Artikels die Annahme treffen, dass alle aktuell und zukünftig beschlossenen Maßnahmen zur Eindämmung und Bekämpfung der Pandemie die hinreichenden Kriterien zu Ihrer Rechtfertigung erfüllen.

Ohne verfügbare Impfstoffe saßen bislang alle Bundesbürger sprichwörtlich im selben Boot: Jeder konnte sich infizieren.
Ganz korrekt ist die Annahme des selben Boots jedoch nicht. So stellte sich bereits nach kurzer Zeit heraus, dass einzelne Bevölkerungsgruppen (die sogenannten Risikogruppen) ein höheres Risiko haben, sich mit SARS-CoV-2 zu infizieren bzw. im Falle einer Infektion einen schweren Verlauf mit potenzieller Todesfolge zu erfahren. Selbstverständlich hatten auch sozio-ökonomische Faktoren einen Einfluss auf die individuelle Exposition und infolgedessen des Infektionsrisikos.
Es ist also nicht verwunderlich, dass u.a. unter dem Begriff “Cocooning” bereits diskutiert wurde, ob die ergriffenen Maßnahmen einer bevölkerungsweiten Anwendung bedürfen oder auf die genannten Risikogruppen beschränkt werden können. Auch hier möchte ich an dieser Stelle kein Urteil abgeben, da es für die weitere Argumentation im Rahmen dieses Artikels unerheblich ist.
Wichtig für die Argumentation ist es hingegen, dass die Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe durch Merkmale bestimmt ist, auf welche der Merkmalsträger keinen Einfluss hat (wie z.B. das Alter). Das bedeutet, die Angehörigkeit zu einer Risikogruppe kann nicht als eine Wahl und damit als eigenes Verschulden angesehen werden. Vor diesem Hintergrund würde eine selektive Einschränkung der Grundrechte den Grundsatz der Gleichberechtigung verletzen.

Durch die Entwicklung und Zulassung erster Impfstoffe gegen das Corona-Virus sind wir nun endlich in der Lage, das Virus nicht nur auf ein durch unser Gesundheitssystem stemmbares Maß einzudämmen, sondern es auch aktiv zu bekämpfen. Impfungen sind der einzige bislang bekannte Weg, der Pandemie ein Ende zu setzen.
Die Verfügbarkeit von Impfungen hat nun erneut die Frage nach einer selektiven Anwendung der beschlossenen Maßnahmen hervorgerufen. Bevor diese Frage aus ethisch-moralischer, ökonomischer, rechtlicher Sicht usw. bewertet werden kann, gilt es dabei zunächst, eine medizinische Frage zu klären: Die Frage nach dem Fremdschutz.
Eine Impfung kann die Übertragung eines Virus theoretisch in beide Richtungen verhindern:

  • Eigenschutz: Ein Geimpfter kann sich nicht mehr mit dem Virus infizieren und daran erkranken.
  • Fremdschutz: Ein Geimpfter kann das Virus nicht mehr an andere Menschen übertragen — egal ob als infizierter oder als “passiver Träger” des Virus.

Im idealtypischen Zustand einer 100%-Impfung der gesamten Bevölkerung würde eine der beiden Schutzkategorien ausreichen, um jegliche Infektion zu verhindern. Davon abgesehen, dass eine 100%-Impfung der gesamten Bevölkerung auch langfristig nicht als realistisch anzusehen ist, befinden wir uns mit Anlauf der Impfkampagne per Definition in einem Mischzustand, in dem es geimpfte und nicht geimpfte Bürger gibt. In diesem Zustand sind beide Schutzkategorien von Bedeutung, müssen doch bereits geimpfte auch Rücksicht auf Mitbürger nehmen, die noch keine Impfung erhalten haben.

Die Zulassung der Impfstoffe in Deutschland durch die europäische Behörde EMA und das deutsche Paul Ehrlich Institut beruht auf einem hinreichenden Nachweis der Wirksamkeit in Bezug auf den Eigenschutz. Eine Wirkung in Bezug auf den Fremdschutz wird zwar angenommen, ist bislang aber nicht nachgewiesen.
So lange dieser Nachweis nicht erbracht wurde, ist an eine selektive Aufhebung der Maßnahmen für Geimpfte ohnehin nicht zu denken. Was aber, wenn dieser Nachweis nun erbracht wird?

Gegen eine selektive Aufhebung der Maßnahmen für Geimpfte sprechen folgende Argumente:

  • Es ist aktuell noch nicht genügend Impfstoff verfügbar, um die gesamte deutsche Bevölkerung zu impfen und selbst wenn dies der Fall wäre, wäre es logistisch und personell unmöglich die gesamte Bevölkerung auf einmal zu impfen.
  • Aufgrund der Impfstoffknappheit können aktuell nicht alle Bürger, die eine Impfung wünschen, eine Impfung erhalten. Die Bundesregierung hat sich für eine Strategie entschieden, bei der zunächst Risikogruppen sowie systemkritische Berufsgruppen und mit wachsender Verfügbarkeit der Impfstoffe sowie erfolgter Impfung dieser Gruppen sukzessive auch Gruppen mit niedrigerem Infektionsrisiko geimpft werden.
  • Die Möglichkeit einer Impfung ist also zunächst weiterhin auf Merkmale außerhalb des Einflussbereichs eines Bürgers zurückzuführen. Somit würde auch bei selektiver Aufhebung der Maßnahmen für Geimpfte der Grundsatz der Gleichberechtigung verletzt.
  • Zeigen große Teile der impfwilligen Bevölkerung aktuell aus Einsicht der sachlichen Argumente für die von der Bundesregierung gewählte Impfstrategie Verständnis dafür, dass sie auf ihre eigene Impfung warten müssen, würden selektive Aufhebungen der Maßnahmen für Geimpfte zusätzliche Anreize für eine frühe Impfung schaffen, welche vermutlich die Akzeptanz für die gewählte Impfstrategie signifikant schmälern würde und im schlimmsten Fall zu Aufständen führen könnte.
  • Auch die Frage nach der selektiven Durchsetzbarkeit von Einschränkungen spricht gegen eine selektive Aufhebung derselben: Zwar ließe sich beispielsweise über den Impfpass eine Impfung nachweisen (Vorzeigen des Impfpasses als Einlasskontrolle zu Gastronomiebetrieben und Einzelhandelsgeschäften sowie bei Polizeikontrollen usw.), doch entstünde somit ein starker Anreiz, ein Dokument, das nicht auf Fälschungssicherheit ausgelegt ist, zu fälschen. Weiterhin würde die Durchsetzung durch die Polizei dahingehend erschwert, als die Identifikation eines Regelverstoßes nicht mehr ohne eine Kontrolle des Impfausweises möglich wäre (wohingegen z.B. aktuell eine große Menschenansammlung eindeutig als Regelverstoß ersichtlich ist).

Aber auch für eine selektive Aufhebung der Maßnahmen für Geimpfte gibt es triftige Argumente:

  • Die anhaltende Aufrechterhaltung der Einschränkungen (u.a. z.B. das Schließen von Gastronomie und Einzelhandelsgeschäften) hat dramatische und teilweise existenzielle ökonomische Auswirkungen.
  • Eine selektive Aufhebung der Maßnahmen für Geimpfte könnte dazu beitragen, zu einem früheren Zeitpunkt wieder Geschäft zu generieren und so unter anderem Folgekosten für die Gesellschaft (durch weitere Pleiten oder Hilfszahlungen sowie entgangene Steuern) zu verhüten.
  • Zu berücksichtigen ist in diesem Kontext natürlich, dass es einer kritischen Masse bedarf, um bspw. einen Gastronomiebetrieb oder ein Einzelhandelsgeschäft wirtschaftlich zu betreiben. Fallen gewisse Fixkosten aber sowieso an (z.B. Mieten, da kurz- bis mittelfristig nicht gekündigt werden kann bzw. die Lokation für den Erfolg nach Beendigung der Pandemie von entscheidender Bedeutung ist), so kann auch ein grundsätzlich unwirtschaftlicher Betrieb sinnvoll sein, sofern die Umsätze die verursachten variablen Kosten übersteigen (oder eine Bindung von Gästen für die Zeit nach Corona als Wettbewerbsvorteil erzielt wird). Positiv könnte sich hier auch auswirken, dass innerhalb von bspw. Gastronomiebetrieben die aus den vergangenen Monaten bekannten Hygienekonzepte, welche auch eine Reduktion der möglichen Gästezahl erzwangen, nicht mehr erforderlich wären (sofern ausschließlich Geimpfte die Restaurants besuchen dürften).
    Sind Eigen- und Fremdschutz durch die Impfung gewährleistet, ist es für den Schutz des Personals vor den Gästen/Kunden auf der einen Seite und den Schutz der Gäste/Kunden vor dem Personal auf der anderen Seite ebenfalls unerheblich, ob das Personal ggf. noch keine Impfung erhalten hat. Natürlich wäre in dem Fall eine Übertragung innerhalb des Personals möglich. Dies gilt aber auch für jede andere Berufsgruppe, die nicht “Home-Office-fähig” ist (z.B. Mitarbeiter im produzierenden Gewerbe) und rechtfertigt keine Hinderung der Berufsausübung.
  • Überwiegt der Grundsatz der Gleichberechtigung andere Werte und Freiheitsrechte oder ließe sich nicht vielmehr argumentieren, dass eine Situation, welche die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte rechtfertigt, auch eine temporäre Abweichung vom Grundsatz der Gleichberechtigung erlaubt?
  • Nicht zuletzt ist es auch die Frage, ob man Menschen, die keinen medizinischen Grund mehr haben, sich an die Einschränkungen zu halten, nach Monaten der Entbehrung den Wunsch nach sozialer Interaktion verwehren kann.

Nahezu alle Argumente gegen eine selektive Aufhebung der Maßnahmen für Geimpfte lassen sich auf den Grundsatz der Gleichberechtigung zurückführen. Während sich über das Für und Wider selektiver Einschränkungen der Freiheitsrechte im Übergangszeitraum der Impfstoffknappheit diskutieren lässt, ist aus meiner persönlichen Sicht eine Aufrechterhaltung der Einschränkungen für Geimpfte dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn jeder impfwillige Bundesbürger eine Impfung erhalten hat:
Wer eine Impfung ablehnt, mag dafür gute persönliche Gründe haben. Aber im Gegensatz zur Zugehörigkeit zu einer Risikogruppe, handelt es sich beim Impfverzicht um ein frei gewähltes Schicksal. Der nicht-impfwillige Bürger hat die Verantwortung für seine Entscheidung zu tragen und wurde durch die Möglichkeit einer Impfung (die auch nach diesem Zeitpunkt weiterhin bestehen wird, sollte sich der betreffende Bürger zu einem späteren Zeitpunkt umentscheiden) gleichberechtigt. Damit gibt es ab diesem Zeitpunkt keinen Grund mehr, geimpften Bürgern Grund- und Freiheitsrechte zu verwehren.

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Niko Hildebrand

32 years old | German | open-minded | always curious | technology enthusiast | blockchain evangelist | Tezos fan | industrial engineer | management consultant